IM DISPOSITIV. BEDINGUNGEN, POSITIONEN UND STRATEGIEN SZENOGRAFISCHER PRAXIS:
EIN GESPRÄCH MIT DEM KOSTÜMBILDNER ANDY BESUCH
von Birgit Wiens,
Der Szenograf Andy Besuch, der seit den Nullerjahren Schauspiel- und Opernproduktionen in Zusammenarbeit mit Regisseur:innen wie Falk Richter, Simone Blattner, Claudia Bossard, Thorleifur Örn Arnarsson sowie Lydia Steier und Valentin Schwarz im deutschsprachigen Raum und europaweit realisiert, zählt zu den namhaften Vertreter:innen dieser Disziplin, die Kostümentwurf und dessen Umsetzung dezidiert als künstlerische Praxis verstehen. Im Folgenden geht es um die Frage: Wie bringt sich Kostümbild in das Dispositiv des Theaters ein, als künstlerische Position und gestaltender Faktor?
Birgit Wiens: Die Kostümgestaltung ist Teildisziplin der Szenografie, und oft übernehmen Künstler:innen sowohl die Bühnen- als auch die Kostümgestaltung. Es gibt aber auch Argumente dafür, beides als ineinandergreifende und dennoch eigene Disziplinen zu betrachten. Welcher Stellenwert wird dem Kostüm im Theaterbetrieb zuerkannt, und wie lässt sich die Position des Kostümbildners, der Kostümbildnerin mit Blick auf die gegenwärtige Praxis beschreiben?
Andy Besuch: Obwohl ich Bühnen- und Kostümbild studiert habe, arbeite ich ausschließlich als Kostümbildner. Allerdings denke ich, dass beides untrennbar verbunden ist: die Figur im Raum und der Raum um die Figur. Zugleich besteht zwischen Kostüm, Maske und den Körpern der Darsteller:innen eine enge Relation, und gerade darin liegt die besondere Herausforderung des Kostümdesigns. Auch wenn dieser Beitrag zur Inszenierungsarbeit noch heute oft unter dem veralteten Begriff ‚Ausstattung‘ gefasst wird, ist sie eine eigene – und wie ich meine, künstlerische – Disziplin, und in dem Sinn verstehe ich mich als eigenständiger Künstler.
Mit der Forderung, Kostüm als Kunst zu verstehen, sind mehrere Ebenen angesprochen: Zum einen die seiner Wahrnehmung durch das Publikum und die Theaterkritik. Zum zweiten die Frage, wie sich Kostümbildner:innen innerhalb künstlerischer Teams (Regie/Bühnen/Dramaturgie, Ensemble) und in der Relation zu Werkstätten, Technikabteilungen und Theaterverwaltung positionieren; zudem wirkt sich oft aus, welche Ausbildung, Begegnungen und welcher individuelle Weg in den Beruf hineinführten. Und nicht zuletzt stellt sich die Frage nach dem Stellenwert, den man dem Kostüm als Kunst bzw. Gestaltungsdisziplin im Dispositiv der darstellenden Künste jeweils zuerkennt; zu berücksichtigen sind immer auch die Bedingungen, die an den Theatern und in konkreten Arbeitszusammenhängen gegeben sind.
Kostümbildner:innen – die meisten arbeiten freiberuflich – haben in der Mehrzahl eine Kunsthochschule besucht,78 im Allgemeinen wird Kostüm jedoch nicht als Kunst betrachtet. Die Frage nach dem Stellenwert unserer Disziplin berührt in der Tat mehrere Ebenen, und die Probleme liegen sowohl in der Innen- wie auch der Außenwahrnehmung. In meinem Fall führte der Weg zum Beruf über ein Studium an der Hochschule für Bildende Künste Dresden bei Henning Schaller und Johannes Leiacker. An diese Akademie ist zudem ein renommierter Fachhochschulstudiengang angegliedert, in dem Theaterplastik, szenische Malerei, Kostümgestaltung und Maskenbild gelehrt werden. Das heißt, ich konnte entwerfen, künstlerisch experimentieren und mir unentbehrliches Praxiswissen über Materialien und handwerkliche Techniken aneignen. Zuvor hatte ich Erfahrungen beim Film gesammelt und sogar ein erstes, eigenes Kostümkonzept umgesetzt (in Peter Greenaways Produktion Bolzano Gold, 2004). Prägend war sicherlich auch, in der Requisitenabteilung der Berliner Volksbühne während eines halbjährigen Praktikums mitzuerleben, wie Bühnen und Kostüme für Inszenierungen von Frank Castorf, Christoph Marthaler, Jonathan Meese oder Christoph Schlingensief, d. h. Szenografien mit sehr unterschiedlichen Ästhetiken, entstanden. Intern praktizierte man eine weitmöglich nichthierarchische Arbeitsweise, auch in der Kooperation mit den Werkstätten. Dass man sich am Theater als ‚Partner in Crime‘ verstehen sollte, habe ich dort gelernt – und auch, wieviel künstlerisches und handwerkliches Wissen in jeder Produktion zusammenkommt. Seit dem ersten Engagement nach dem Diplom (Der Meister und Margarita, Schauspiel Stuttgart 2011, mit Corinna Harfouch) bin ich als Kostümbildner für Sprechtheater, Oper sowie für Filmprojekte und Werbeproduktionen tätig.
Was die Innenperspektive auf den Beruf im Theaterbetrieb angeht, ist zu erwähnen, dass man von Szenograf:innen v. a. an kleinen Häusern häufig erwartet, beides – Bühnen- und Kostümbild – zu übernehmen, und Kostüm als etwas betrachtet wird, das man ‚nebenbei‘ macht. Mit meiner Arbeitsbiografie und gemäß meinem Selbstverständnis bestehe ich dagegen explizit darauf, als Kostümbildner engagiert zu werden. Bei Vertragsverhandlungen zeigt sich immer wieder, dass beim Kostümbild, das als eher ‚weibliches‘ Berufsfeld gelesen wird, die Gagen oftmals weit niedriger angesetzt werden als für das Bühnenbild.79 Das sollte sich ändern, zumal Kostümentwürfe die visuellen Dramaturgien und Ästhetiken entscheidend mitprägen und einen eigenen, wichtigen Beitrag zur Inszenierungsarbeit leisten. Auch in der Außenwahrnehmung gibt es Missverständnisse, etwa die weit verbreitete Meinung, unsere Aufgabe bestünde vor allem darin, Kleidung einzukaufen oder vorhandene Kostüme im Theaterfundus zusammenzusuchen. Dem komplexen Prozess, den das Entwickeln eines Kostümkonzepts und einer stimmigen Bildsprache erfordert, wird das aber keinesfalls gerecht. Selbst im seltenen Fall, dass für eine Produktion keine Kostüme neu angefertigt, sondern Kaufartikel oder bereits abgespielte Fundusteile ausgewählt, kombiniert, umgeändert und variiert werden, verlangt dies Fachkenntnis und künstlerische Entscheidungen, und somit handelt es sich immer um einen gestalterischen Vorgang.
Als Teil der Regieteams wurden Theaterkostümbildner und -bildnerinnen bisher selten namentlich bekannt, da gab es – mit Moidele Bickel als künstlerischer Partnerin von Peter Stein oder Frida Parmeggiani in vielen Produktio nen Robert Wilsons – lange nur wenige Ausnahmen. Wie haben sich die Arbeitsbedingungen für Kostümbildner:innen an den Theatern und, damit verbunden, die künstlerische Praxis der Kostümgestaltung in den letzten beiden Jahrzehnten verändert?
Wenn man – angefangen beim (west)deutschen Regietheater der 1960er und 1970er Jahre – in die letzten Jahrzehnte zurückblickt, so sieht man nach der Wiedervereinigung und mehr noch in den Nullerjahren eine Art Zäsur, die nicht zuletzt mit Sparmaßnahmen zu tun hat. Mir wird das immer bewusst, wenn ich auf Kostüme Moidele Bickels stoße, die im Fundus der Berliner Schaubühne hängen, oder auf Kostüme von Jürgen Rose, die in den Münchner Kammerspielen und in Spezialschränken im Staatstheater Stuttgart aufbewahrt werden. Im Archiv gibt es dort faszinierende historische Kostüme aus der Zeit, als die Württembergischen Theater noch Hoftheater waren. Ähnlich kostbar mögen einem heute Jürgen Roses Kostüme vorkommen; wenn man sie näher betrachtet, sieht man die Sorgfalt und den Aufwand, mit dem sie kreiert und hergestellt wurden. Um besondere Stoffe zu finden, soll Rose selbst nach Italien oder sogar bis nach Indien gereist sein; unter heutigen Bedingungen im Theaterbetrieb ist das kaum mehr vorstellbar. Auch der Wandel der Mode ist ein Faktor: In den 1990er Jahren, beeinflusst z. B. durch das Modedesign Jil Sanders oder Helmut Langs, wurden die Kostüme reduzierter, sachlicher, doch mit Gucci, Galliano und Alexander McQueen gab es bald auch wieder andere Einflüsse. Allerdings gilt: Fashion is not a Costume, das heißt, zwischen Mode und Kostüm muss man klar unterscheiden. Neue Tendenzen im Theaterkostüm sieht man seit den Zehnerjahren, z. B. mit Victoria Behrs Entwürfen für Inszenierungen von Herbert Fritsch, Antú Romero Nunes oder Barrie Kosky, die mit ihrer Farbigkeit, Stil- und Formenvielfalt eine große Opulenz, Expressivität und Artifizialität brachten: ‚kranke Kostüme‘ (im Sinne Roland Barthes‘) mit einer neu entdeckten Lust am Sinnlichen. Viele Kostümbildner:innen meiner Generation, wie Teresa Vergho oder Josa Marx, haben wieder Freude an der Figur und am Gestalten. Eines meiner Schlüsselerlebnisse hatte ich in Stuttgart beim ersten Engagement: Alle Sparten (Oper, Schauspiel, Ballett) haben dort eigene Kostümwerkstätten und zudem eine eigene Lehrwerkstatt für Auszubildende. Es geht einem das Herz auf, wenn man all die Stoffe, Perlen und alten Stickereien sieht und mit den Gewandmeister:innen, Schneider:innen, Modist:innen und den Fachgewerken für Kostümmalerei, Färberei oder auch Schuhmacherei und Rüstmeisterei zusammenarbeiten kann, wo alle ihre Handwerkskunst (einschließlich traditioneller Techniken, von denen einige nur noch am Theater gepflegt werden) auf faszinierende Weise beherrschen; gleiches gilt für die Maskenbildabteilung. Die Stuttgarter Bedingungen sind mit denen in Paris oder Amsterdam vergleichbar, und auch andere Häuser (sofern nicht rationalisiert und ausgelagert wurde) haben sehr gute Werkstätten. Schon für sich ist das kulturell wertvoll, und als Künstler:in schöpft man viel aus diesen Möglichkeiten – sollte aber entsprechend damit umgehen können. Es ist schade, wenn Kostümbildner:innen zu H&M laufen, um von den Werkstätten dann zu verlangen, das Zeug nur aufzutrennen und anders zusammenzunähen; auf diese Weise geht vieles verloren. Das aber hat wiederum auch mit niedrigen Gagen, Budgets und dem eher geringen Stellenwert zu tun, den man dem Kostümbild eingeräumt hat, und – von außen – mit der weitgehend fehlenden Auseinandersetzung mit unserer Kunst.
Wie lässt sich – aus der Innenperspektive – ein Entwurfsprozess exemplarisch beschreiben, und wie hierarchisch oder aber beweglich und durchlässig sind die Positionen von Regie, Dramaturgie, Ensemble sowie Kostüm- und Bühnenbild geworden?
Jedes Stück verlangt eine andere Sprache und andere Perspektiven. Immer schon ist da ein Kosmos von Inspirationen, denn ich bin kein Kostümbildner, der mit dem Stift in der Hand nur im Atelier sitzt oder sich Ideen online sucht, sondern ich gehe in Museen, ins Kino; und unendlich viele Anregungen gibt die Natur, allein schon mit ihrer Vielfalt an Farben und Farbkombinationen. Eine Freddy-Mercury-Biografie interessiert dabei ebenso wie z. B. ein Bildband über Hüte im Barock, und zur Kostüm- und Stilgeschichte lässt sich wunderbar in der Lipperheideschen Kostümbibliothek zu Berlin oder der Von Parish Kostümbibliothek des Münchner Stadtmuseums recherchieren. Wichtig ist auch die kontinuierliche Auseinandersetzung mit Materialien, etwa auf Stoffmessen (wie z. B. der Pariser Fachmesse Première Vision). Ich benutze gern wertige Stoffe, aber auch simples, billiges Material – oft beides in Kombination –, und arbeite beim Entwerfen und Gestalten viel mit visuellen Zitaten, kulturellen Codes und Referenzen. Als Kostümbildner habe ich eine eigene, auch wiedererkennbare Signatur entwickelt, und in der Zusammenarbeit ist mir wichtig, als gleichberechtigte künstlerische Position beteiligt zu sein. Am Beginn gehe ich das Stück – sei es ein Theatertext Elfriede Jelineks, wie Am Königsweg, der am Hamburger Schauspielhaus uraufgeführt wurde (Regie: Falk Richter, 2017), oder eine Oper (wie Richard Wagners Der Ring des Nibelungen, Bayreuther Festspiele 2022, Regie: Valentin Schwarz) – systematisch durch. Dann entstehen Figurenanalysen und, zunächst v. a. in Form schriftlicher Notizen, Schemata zu Struktur, Handlung bzw. Themen, sowie Skizzen und Assoziationen erster Ideen. Die eigentliche Arbeit am Kostümkonzept beginnt, wenn ich den Bühnenentwurf und Regieansatz kenne; in der Teamarbeit greifen dann Kostüm, Regie, Dramaturgie sowie Bühnengestaltung, Video und Musik ineinander. Mithilfe des Bühnenbildmodells und ausgehend von Erfahrungen bei der Bauprobe untersuche ich, wie der Raum als Counterpart für Kostüm funktioniert und welche Möglichkeiten oder Reibungsflächen er bietet. Sind die ersten Fähnchen für meine Konzeption gesetzt, entsteht schrittweise, im Ausarbeiten von Zeichnungen, Materialsammlung und Collagen, eine vestimentäre Partitur. Für jede Figur muss überlegt werden: Wie tritt sie ins Spiel, in welchen Relationen (zu Ort, Zeit, den anderen Figuren) bewegt sie sich, wo wird sie am Ende sein und was passiert dazwischen? Welche Kostümelemente und Merkmale (wie etwa Farbigkeit) sollen durchgehend oder nur in ein- zelnen Szenen vorkommen? In der Leseprobe (die bei Am Königsweg eine Woche lang dauerte) stelle ich die Recherchen, Inspirationen und Entwürfe in einer Powerpoint-Präsentation vor, Regieteam und Performer:innen treten gemeinsam in den Probenprozess ein, und die Konzeption verdichtet sich. Wichtig ist, immer wieder nach den Identitätsmarkern zu fragen und danach, in welcher Weise Kostüme bestimmte Mentalitäten, soziale Codes und Machtverhältnisse reflektieren und welche Assoziationen sie hervorrufen; die Figuren sollen ambig sein. Kostüme sind Artefakte, künstlerische Medien und haben als solche ihre wohl wichtigste Funktion darin, den Darsteller oder die Darstellerin in eine Kunstfigur zu verwandeln.
Kostüme beeinflussen Spielweisen und Bewegungen, sie geben Spielimpulse, mit anderen Worten: Zwischen Kostümgestaltung sowie Schauspieltechnik und Gestaltung der Figur bzw. Rolle gibt es starke Wechselwirkungen. Sophie Rois sagte beispielsweise einmal über die Kostüme Bert Neumanns: „(Er) wusste (...), dass er mich für ein Stück begeistern kann, indem er mir das Kostüm zeigt (...). Mehr brauchte ich oft gar nicht, nicht die seelische Gestimmtheit der Figur, sondern dass ich dachte: In dem tollen Fetzen oder mit dieser Krone habe ich auf jeden Fall Lust aufzutreten, weil das bei mir alles Mögliche aus löst“ (dies. 2016). Sie nennt das ‚von Aussen nach Innen arbeiten‘ (ebd.). Es gibt verschiedene Techniken, eine Figur zu entwickeln; Kostüme sind auf unterschiedlichste Weise daran beteiligt. Dazu gehört auch, dass Kostümbild- ner:innen unter den Szenograf:innen diejenigen sind, die am engsten mit den Darsteller:innen und buchstäblich an und mit deren Körper arbeiten.
Wenn man den Raum entwirft, ist da niemand, der eine Taille möchte oder vielleicht einen Hut tragen will; beim Kostüm dagegen hat man es mit Menschen zu tun. Nach Abgabe des Konzepts in den Werkstätten (mit Angaben zu Schnitt, Stoffen und sonstigen Details) werden einige Kostüme teilangefertigt oder Prototypen genäht, um sie auf den Proben zu überprüfen. Nicht alle Entscheidungen sind also final, und meist gibt es Entwürfe, die szenisch ausprobiert, weiterentwickelt oder notfalls verworfen werden. Wie der Bühnenraum, jede Wand, Bodenschräge, rotierende Scheibe oder auch jeder Stuhl und sonstigen Objekte beeinflussen die Kostüme das Körpergefühl der Spieler:innen, sind Impulsgeber im Hinblick auf Haltung, Gestus, Spielduktus – z. B. hat ein dicker Mantel einen lastenden, beschwerenden Effekt und ein enger Rock verändert sofort die Präsenz und Bewegungen. Eine Anprobe in der Kostümabteilung ist daher fast eine szenische Probe und zugleich immer etwas Besonderes, beinahe Intimes. Als Kostümbildner ist man an der Stelle Berater, Vertrauter oder auch die ‚strenge Mutti‘, die sagt: ‚Zieh das bitte an, lass es uns ausprobieren!‘, und manchmal eine Art Chirurg. Es kann auch Krisen geben; man fängt in der Kostümabteilung vieles auf. Teil der Aufgabe ist einerseits, herauszufinden, was ein Schauspieler bzw. eine Schauspielerin (oder in der Oper, etwas anders, ein Sänger, eine Sängerin) jeweils braucht. Andererseits ist Kostüm in gewisser Weise ‚Zwang‘, weil es Figuren modelliert und – je nach Gesamtkonzeption – manchmal gezielt Einschränkungen schafft, z. B. indem man in einem Anzug die Taschen zunäht, sodass die Hände nicht darin verschwinden können, oder man einer Figur das Gesicht nimmt. In der Inszenierung von Baracke, Rainald Goetz‘ Stück über dysfunktionale Kleinfamilien, NS-Erbe und transgenerational fortwirkende ideologische Prägungen (Regie: Claudia Bossard, Deutsches Theater Berlin, 2023), bekamen die beiden Elternfiguren, die beim ersten Auftritt einer Museumsvitrine entstiegen, Biedermeierkostüme; in einer anderen Szene ließ ich ihre Köpfe in bunten Bauklötzen verschwinden, die sie auf visueller Ebene zwar verbanden, aufgrund ihrer Sperrigkeit und Materialität aber auch trennten, die Figuren quasi in sich einsperrten und ihre Körper puppenartig fast erstarren ließen. Auch griffen hier das Bühnenbild (von Elisabeth Weiß) und die Kostüme stark ineinander, nicht zu vergessen das Licht- und Videodesign (vgl. Abb. 68 und 69). Wie dieses Beispiel zudem deutlich macht, hört Kostümentwurf bei den Figuren nicht am Hals auf, sondern umfasst auch das Maskenbild. Kostümteile wie diese sind eigentlich plastische Objekte – in ähnlichem Sinne, wie man es etwa vom Theater Achim Freyers oder, anders, von Szenografien Robert Wilsons kennt. Eine solche formale Strenge haben die Produktionen, an denen ich beteiligt bin, allerdings nicht, sondern vorzugsweise einen offenen Inszenierungsansatz, bei dem man sich mit kontroversen Sichtweisen, Assoziationen sowie divergierenden künstlerischen Formulierungen gegenseitig überraschen kann. Auf der Ebene der Formensprache interessiert mich besonders das Diverse, Mehrdeutige oder auch vermeintlich Hässliche, das ich mit meiner von anderen oft als eklektizistisch bezeichneten Gestaltungspraxis auslote. In der Produktion Baracke gab es z. B. neben den Biedermeierkostümen auch Ganzkörperkostüme in Form überdimensionaler Schokoriegelpackungen, in denen die Schauspieler:innen durch die Bilderrahmen hindurch in den Museumsraum (der ja heute nicht allein Bildungsort, sondern längst auch Konsumwelt ist) eindrangen: Das erzählten diese Kostüme auf der Inszenierungsebene, und zudem fungierten sie als Impulsgeber, die ungewöhnliche Spielweisen bedingten.
Kostüme sind künstlerisch gestaltete Artefakte, die, sobald ein Stück abgespielt ist, als Theaterkleider und „Gebrauchsgegenstand zur Wiederverwertung“ angesehen werden; zugleich gehören sie zu den szenografischen Objekten, die neben ihrem Wert als materielles Relikt einer Inszenierung einen hohen emotionalen Wert haben, weil sie in den Aufführungen gewissermaßen ‚mitspielten‘ und direkt am Körper getragen wurden.80 Dass ein Kostüm danach als Artefakt separat aufgehoben und archiviert wird und nicht als ‚Gebrauchsgegenstand‘ in den Fundus kommt, ist dennoch eher die Ausnahme. Was also bleibt von den Kostümen und was von den Skizzen, Collagen, Kostümpartitu ren und Fotografien?
Was das Dokumentieren und Aufbewahren angeht, gibt es keine ganz einheitliche Praxis. Bei den Bayreuther Festspielen wird alles aufgehoben – ein musealisierender Ansatz: Meine Kostümentwürfe mussten für den Ring (2022) bei der Entwurfsabgabe detailliert ausformuliert sein und wurden, ebenso wie die realisierten Kostüme, archiviert. In anderen Zusammenhängen entstehen Konzepte, wie beschrieben, eher prozessorientiert, was sich auch auf die Wahl der Entwurfsmedien und -techniken auswirkt. Mehr als die Zeichnung hat sich – besonders für meine Mix & Match-Gestaltungspraxis – die Collage (auch digital per Photoshop) als geeignet erwiesen – verstanden als Werkzeug, um Ideen prägnant zu vermitteln. Was die Kostüme, Hüte, Accessoires etc. selbst betrifft: Es berührt schon, wenn man im Fundus auf besondere, im Gedächtnis gebliebene Stücke von Moidele Bickel oder von Kolleg:innen wie Klaus Bruns, Victoria Behr oder auf Eigenes aus vergangenen Produktionen trifft. Ein Fundus ist ein Kosmos voller Erinnerungen, aber auch eine Ressource von Theaterkleidung, Stoffen und Material. An dem System partizipieren wir, indem wir es nutzen und auch prägen; die Kostüme gehören dem Theater und werden immer wieder Material für etwas Neues. Bei ikonischen Entwürfen wird allerdings schon überlegt, ob man die Schere ansetzt. Die wichtigsten Kostümskizzen, -partituren, Collagen, Proben- und Aufführungsfotos hebe ich digital auf,81 eben weil unsere Kunst so vergänglich ist, und weil sich anhand der Entwürfe aufzeigen lässt, inwiefern Kostümbild in den darstellenden Künsten nach heutigem Verständnis nicht als ‚Ausstattung‘, sondern als künstlerisches Gestaltungselement fungiert.